Niederländische Jugendliche im Vergleich zum europäischen Durchschnitt im ESPAD Report 2007

Abstract: Prof. Thomasius behauptet die niederländischen Jugendliche würden „im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis konsumieren und früher in den Cannabiskonsum einsteigen als der europäische Durchschnitt.“. Er beruft sich hierbei auf die ESPAD Erhebung 2007. Auch unter Berücksichtigung der Schwächen des ESPAD Report komme ich zu dem gleichen Ergebnis wie Thomasius. Das Einstiegsalter gemessen über den Anteil derer die mit 14 Jahren oder jünger zum ersten Mal Cannabis konsumierten liegt gering über dem Durchschnitt und die Konsum-Prävalenzen liegen deutlich darüber. Vergleicht man die Werte der Niederlanden mit dem gewichteten Mittelwert der Nachbarstaaten schrumpft der Abstand der Prävalenzen zu diesem Durchschnitt und beim Einstiegsalter liegen die niederländischen Jugendliche dann über dem Durchschnitt.

Prof. Thomasius schrieb in seiner Stellungnahmne zur Bundestagsanhörung „Wie gefährlich ist Cannabis?“:

Die Präventionsforschung im Suchtbereich zeigt, dass verhältnispräventive Maßnahmen, denen auch restriktive Gesetze und Verordnungen zuzuordnen sind, grundsätzlich eine hohe Wirksamkeit besitzen. Diese Befunde werden durch die Begleitforschung zu „Coffeeshops“ in den Niederlanden gestützt, die belegt, dass niederländische Jugendliche im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis konsumieren und früher in den Cannabiskonsum einsteigen als der europäische Durchschnitt. […]

Drittens zeigt die Begleitforschung zu „coffee shops“ in den Niederlanden, dass niederländische Jugendliche im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis konsumieren und früher in den Cannabiskonsum einsteigen als der europäische Durchschnitt (ESPAD-Daten 2007; Hibell et al., 2009). […]

Hibell, B., Guttormson, U., Ahlström, S. et al. (2009). The 2007 ESPAD report, substance use among students in 35 European countries. Stockholm: CAN.

Den ersten Teil seiner Behauptung hatte ich bereits in meinem Kommentar zur Anhörung auseinander genommen:

Thomasius unter Beschuss

Bei mehr als einem Punkt gerieten Gaßmann und Thomasius aneinander, nicht zuletzt bei der Frage, ob das Verbot den Konsum beeinflusst. Gassmann führte eine Studie der Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht an. Sie hat europaweit Konsumentenzahlen und Gesetzesänderungen analysiert, das Fazit: Es gibt kein Zusammenhang zwischen nationalen Gesetzen und Zahl der Konsumenten – die Niederlande mit weniger Kiffer als in Deutschland sind da nur ein Beispiel.

Schreibt Thomasius in seiner Stellungnahme „Erstens zeigt die Präventionsforschung, dass verhältnispräventive Maßnahmen, denen auch restriktive Gesetze und Verordnungen zuzuordnen sind, eine hohe Wirksamkeit im Suchtbereich besitzen.“ Die genannten Studien beziehen sich allerdings auf Verschärfungen bei den legalen Drogen Alkohol und Tabak, eine Aussagekraft für Cannabisverbot ist nicht gegeben.

„Ein Zusammenhang zwischen Drogenpolitik, gemessen an den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie der Praxis der Strafverfolgung und Verbreitung des Cannabisgebrauchs lässt sich nicht feststellen.” schreibt Prof. Reuband zu diesem Thema. Im Gegensatz zum Psychiater Thomasius ist Reuband Spezialist für empirische Sozialforschung.

Die von Gassmann erwähnte Studie der Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht habe ich mir noch nicht angesehen. Kommen wir zur Behauptung „dass niederländische Jugendliche im europäischen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis konsumieren und früher in den Cannabiskonsum einsteigen als der europäische Durchschnitt“. Ein Vergleich der Prävalenz des Cannabiskonsums in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und im europäischen Durchschnitt legt eher das Gegenteil nahe:

Prävalenz des Cannabiskonsums in der Allgemeinbevölkerung
Zeitlicher Rahmen des Konsums
Lebenszeit Letzte zwölf Monate Letzte 30 Tage
Altersgruppe 15-24 Jahre
Niederlande 28,3 % 11,4 % 5,3 %
Europäischer Durchschnitt 30 % 15,2 % 8,0 %

Die ESPAD Befragungen richten sich an 15 bis 16 jährige Schüler_Innen in Europa. Die Zahlen für Deutschland müssen mit Vorsicht genossen werden, da nur 5-7 Bundesländer an dem Projekt teilnahmen. Zuletzt waren es Bayern, Brandenburg, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen mit insgesamt 28,6 Mio. Einwohner. Die Zahlen aus Dänemark wurden von ESPAD nicht immer berücksichtigt, da hier nicht die formal erforderliche Menge an Fragebögen eingesetzt wurden. Die Zahlen für die USA und Spanien stammen aus nicht ESPAD Umfragen.

Laut den ESPAD Daten lag die Lebzeitprävalenz der Teilnehmer der Umfrage von 2003 und 2007 in den Niederlanden bei 28 %, die 30-Tages-Prävelanz stieg von 13 auf 15 %. Für „All countries“ wird ein Lebzeitprävelenzwert von 19 % für 2007 angegeben. Dass der Wert für die 30 Tages Prävalenz deutlich über dem für die Altersgruppe 15-24 Jahre liegt ist merkwürdig.

Im Bericht 2007 finden sich die 12-Monats-Prävalenz und den Anteil derer mit einem Einstiegsalter von 13 oder niedriger für die Niederlanden (25 % bzw. 6 %) und dem Durchschnitt der Länder (14 % bzw. 4 %).

Aufklärung konnte der Zusatz „unweighted“ beim „Average“ geben, im Report wird in der Einleitung des Kapitels „Key results 2007 country by country“ angemerkt:

„The results for each country are summarised in a graph, together with the unweighted averages for all participating ESPAD countries. This is done in order to facilitate the interpretation of the results, i.e. to make it easier compare each country’s prevalence rates with the means for all ESPAD countries.“

Angesicht von teilnehmenden Ländern wie Zypern (Einwohner 885.041), Estland (Einwohner 1.340.021) und den Färöer-Inseln (Einwohner 48.574) kann man deswegen kaum von einem aussagekräftigen Durchschnittswert sprechen.

Um diesen zu erhalten wird der Inhalt folgender Tabellen mit der Einwohnerzahl der jeweiligen Länder gewichtet:

  • Table 31a. Frequency of lifetime use of marijuana or hashish. All students. 2007. Percentages.
  • Table 32a. Frequency of use of marijuana or hashish during the last 12 months and last 30 days. All students. 2007. Percentages.
  • Table 41b. Lifetime use of various substances, intravenous drug use and mixing alcohol with pills, by gender. 2007. Percentages. – Onset age 13 or younger

 

Lebzeitprävalenz 12-Monate-Prävalenz 30-Tage-Prävalenz Konsum mit 14 Jahren oder jünger
Niederlande 28 25 15 6
Belgien (Flandern) 24 19 12 5
Frankreich 31 24 15 8
Deutschland (7 Bundesländer) 20 15 7 6
Dänemark 25 21 10 5
Ungewichteter Durchschnitt aller ESPAD-Werte 19 14 7 4
Dito aber ohne Russland 18,5 14,0 7,2 4,3
Dito aber ohne Russland mit Spanien und Dänemark 19,2 14,7 7,7 4,4
Ungewichteter Durchschnitt aller ESPAD-Werte mit Spanien, Dänemark und den USA 19,5 14,9 7,7 4,5
Gewichteter Durchschnitt ohne Russland mit Spanien und Dänemark 20,7 16,0 9,2 4,7
Gewichteter Durchschnitt Niederlande und Nachbarn 27,4 21,7 12,8 7,0

 

Um einen europäischen Vergleich zu erhalten wurden die Zahlen von Russland nicht berücksichtigt, dafür aber die Daten von Spanien und Dänemark. Meine Tabelle mit den Berechnungen: espad 2007.ods

Fazit für die Niederlande: Das Einstiegsalter gemessen über den Anteil derer die mit 14 Jahren oder jünger zum ersten Mal Cannabis konsumierten liegt gering über dem Durchschnitt und die Konsum-Prävalenzen liegen deutlich darüber. Vergleicht man die Werte der Niederlanden mit dem gewichteten Mittelwert der Nachbarstaaten schrumpft der Abstand der Prävalenzen zu diesem Durchschnitt und beim Einstiegsalter liegen die niederländischen Jugendliche dann über dem Durchschnitt.

Grundsätzlich ist anzumerken dass europaweite Vergleiche nur bedingt geeignet sind um die Effekte von z.B. der Übernahmne des niederländischen Coffeeshopmodells auf Deutschland vorherzusagen, da der Legalitätsstatus nur einen geringen Einfluss auf das Konsumverhalten hat. Deswegen sollten viel eher die wirklich starken Faktoren gesucht werden und Modelle zur politischen Einflussnahme gefunden um diese dann in der Drogenpolitik zu berücksichtigen. Der Vergleich der Niederlande mit den Nachbarstaaten ist vermutlich aussagekräftiger als der mit dem europäischen Durchschnitt, da es eine plausible Annahme ist dass die erwähnten zu findenden Faktoren bei Nachbarstaaten sich nicht so sehr unterscheiden wie bei einem europaweiten Vergleich.

Ein weiterer noch zu untersuchender Faktor ist die Verzerrung von Umfragen beispielsweise über die Gesetzeslage und kulturelle Repression. Beispielsweise sollte ein Erwachsener in den Niederlanden Fragen zu seinem Cannabiskonsum deutlich freier und damit ehrlicher beantworten als jemand der sich mit seinem Konsum in die Illegalität begibt. Für Griechenland, das mit seinen vielen Einwohner und niedrigem Konsum den europäischen Durchschnitt massiv drückt, könnte der Faktor der kulturellen Repression hinzukommen, Joe Wein schreibt hierzu:

Griechenland hat mit die härtesten Drogengesetze Europas. Im Jahre 1890 wurde dort das erste Cannabisverbot Europas erlassen. Hintergrund ist die Tatsache, dass Griechenland jahrhundertelang von den Türken beherrscht wurde. Als Moslems war ihnen Wein ausdrücklich vom Koran verboten, während ihn die Griechen seit Jahrtausenden verwendeten und er auch eine Sakrament ihrer christlichen Liturgie war. So wurde Wein zur Droge der Griechen und Cannabis zur Droge der Türken. Ein Verbot des Haschischrauchens war ein Weg, in Griechenland lebende Türken zu kriminalisieren.

Nicht ausgewertet wurden die Zahlen von 2003. Der ESPAD Report 2011 wird Ende Mai 2012 veröffentlicht.

Interessant ist noch die Tabelle 33 mit den „Frequency of opportunities to try marijuana or hashish among students reporting no lifetime prevalence of cannabis“ mit den Antwortmöglichkeiten 0, 1-2 und 3+ und den Ergebnissen Niederlande 64, 20 und 16 % und im Durchschnitt 71, 17 und 12 % sowie die Abbildung 13b, Angaben in %:

Perceived availability of cannabis. Students answering that marijuana or hashish would be “fairly easy” or “very easy” to obtain, by gender. 2007.
USA (69)
Czech Republic (66)
Denmark (59)
Spain (55)
Slovak Republic (52)
United Kingdom (51)
Netherlands (49)
Germany (7 Bundesl.) (38)